Die 5 Paradoxien des Jochen Wegner und ihre höhere Wahrheit

Eine Replik auf die fünf sogenannten Paradoxien des Onlinejournalismus

Heute nachmittag macht der Meta-Journalismus eine weiteren Ritt durch die öffentliche Arena. Jochen Wegner, Chefredakeur von ZEIT ONLINE (das ich als Marke sehr, sehr schätze), veröffentlichte dort seine fünf Thesen über nach seiner Meinung Paradoxien der Livemedien (die er auf Onlinejournalismus eingrenzt). Die anderen „Live“-Medien blieben unerwähnt, also Fernsehen, Radio, Telefon, Funk, Chat, Live Messenger.

 

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Von Tobias R. – MetocEigenes Werk, CC BY-SA 2.5, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2520370

Die höhere Wahrheit hinter den Paradoxien

These: Wir können nicht nicht kommunizieren

Stimmt, wusste schon Paul Watzlawick. Das gilt aber für die menschliche Kommunikation, nicht für mediale, also vermittelnde Informationsverbreitung eines Massenmediums. Und selbst wenn es gelten würde, dann für alle Medienkanäle und alle Formen des Journalismus. Und Online-Journalisten kommunizieren ja nicht mit ihren Usern, sie verbreiten Informationen. Das tun sie meist, wie bei den beschriebenen Lagen nur durch Informationsbruchstücke, also höchstens Daten. Sie kommunizieren mit ihren Informanten oder Kollegen, das mag sein.

Als Menschen sind wir inzwischen fast ausschließlich in Medienrealitäten eingesponnen. Die Realität der Medien ist aber keine Wirklichkeit, sie ist von höherer Realität als die Wirklichkeit. Es kann also höchstens die These formuliert werden „Wir können nicht nicht informieren“. Dies gilt aber nur, wenn wir hier akzpetieren, dass sich die Livemedien-Marken in einem ökonomischen Wettbewerb befinden. Natürlich kann ZEIT ONLINE sagen, „Wir machen da nicht mit!“ Wäre eine verlegerische Grundsatzentscheidung – aber man will mit seiner Programmatik Geld verdienen.

These: Wir sind Teil des Rauschens, das wir bekämpfen

Medien überwinden, um die traditionelle Transport-Metapher anzuführen, Zeit und Raum. Zu Zeiten des griechischen Marathon-Läufers halt langsamer als heute Medienkanäle wie Twitter, aber im qualitativen Gehalt gleich. Die zweite These ist somit keine spezielle Implikation von Livemedien, sondern ein generelles Medienthema. Wie schon William Randolph Hearst erkannte, sind Sensationsnachrichten von erheblichem ökonomischen Wert. Die Sensation kann aber nur derjenige effektiv vermarkten, der den Raum am schnellsten überwindet. Jochen Wegner schreibt deswegen auch ganz ehrlich: „Selbstreflexion kann gerade dann wichtig sein, wenn es um Sekunden geht. So fand der britische Guardian die Zeit, bereits in seiner ersten Eilmeldung zu den Schüssen in München darauf hinzuweisen, dass es kurz zuvor in Würzburg eine islamistisch motivierte Tat gegeben hatte und davor in Nizza.“
Wenn sich Medien in die Küche begeben, dann stehen sie im Wettbewerb und können den Kampf um die Sensation nicht als zu große Hitze beklagen – und schon gar nicht als Paradoxon.

These: Wir spielen mit bei einer Inszenierung, die wir durchschauen

In der Tat, das sehe ich auch so. Aber es ist keine neue Erkenntnis, denn die Instrumentalisierung für Propaganda hat erst Martin Luther und dem Buchdruck, dann der Nationalsozialismus mit dem damals recht „Neuen Medium“ Radio und dann Al Quaida mit dem als medialem Ereignis inszenierten Angriff auf die USA an 9/11 im Medium Fernsehen zur Perfektion gebracht. Der IS perfektioniert es auf einer weiteren Stufe, in dem er die Netzwerkeffekte der digitalisierten Medien ausnutzt. Medien lassen die Instrumentalisierung zu, weil sie einerseits die dafür notwendige Medientechnologie forciert verbreiten, andererseits weil auch hier wieder ökonomische Gründe der Treiber sind: Sensationen lassen sich monetarisieren.
Erklären, einordnen und den Nutzern zu helfen, wie solche Ereignisse verstanden und politisch behandelt werden könnten, dafür ist ein bestimmter Medienkanal keine Voraussetzung.

These: Es ging uns noch nie so gut wie, es war noch nie so dramatisch

Um mit Nietzsche und Foucault zu argumentieren: Was heisst den gut? Wer kommt darauf, das es uns noch nie so gut ging? Die Zurückgebliebenen des Neo-Liberalismus und Kapitalismus? Diejenigen die nicht an Geld, Reichtum und Vermögen als Leitwerte glauben? Vielleicht die, die das Leben der Anderen aus der VIP-Lounge betrachten. David S., der Amokläufer aus München, zählte sicher nicht zu den Gewinnern dieser Gesellschaft. Vielleicht sind es derart viele Verlierer geworden, die diese ihren Verstand, ihre Nerven und ihre Affektkontrolle verloren haben, Unglück über unschuldige Menschen bringen, sodaß die Gewinner und Mitläufer der Wohlstandgesellschaft es als „soviele Dramen“ auffassen. Aber Psychologen, Soziologen und  Politologen werden uns sicher nach einiger Zeit der substanziellen Analyse valide Erklärungen liefern können.

These: Unsere eigene Medienkritik denken wir bereits mit

Jochen Wegener schreibt zu dieser These: „… dass wir um viele unserer Fehler wissen, und sie doch täglich neu begehen, weil sie unvermeidbar sind oder uns so scheinen.“ Auch muss man hier leider dekonstruieren, dass sie eben nicht unvermeidbar sind. Sie werden gemacht, weil in der durchökonomisierten Medienrealität, für die Umsatz gleich Reichweite multipliziert mit Geschwindigkeit gilt (oder wahlweise Alleinstellung oder Grenzüberschreitung statt Geschwindigkeit wie bei den Boulevard-Medien), eben keine sogenannten Qualitätskriterien des Journalismus gelten, auch keine klare Haltung mehr, sondern Relevanzkriterien des Journalismus, die aber leider immer mehr auf Quantität referenzieren und nicht auf weniger ist mehr.

Fazit

Die Thesen rechtfertigen als Paradoxien verschleiert, und damit als „Naturgesetze“ konnotiert, die höher stehende medienökonomische Wahrheit. Tatsache ist, dass die Ökonomie, also die Logik des Kapitalismus die Regeln diktiert. Solange sich keine alternativen Medienmodelle nachhaltig und mit relevanter Reichweite durchsetzen, solange werden wir als Nutzer und Kritiker damit leben müssen – oder einfach abschalten, denn wir müssen uns vielleicht auch nicht als Couch Potatoe an derartig blutigen Ereignissen „live“ über Stunden an den Smartphones und TV-Bildschirmen ergötzen. Wir können einfach warten, bis die Polizei ihren Job getan und Fakten recherchiert hat.

 

25. Juli 2016 von Thomas
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